Der Falke mit den scharfen Krallen

Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne schien so herrlich auf die taubedeckten Blätter, dass sie aussahen wie 1000 funkelnde Diamanten. Auch die Vögel sangen so verzückend, dass Leonie es wagte, vorsichtig und mit pochendem Herzen, ein paar kleine Schritte vor den Eingang ihrer Höhle zu gehen. Gerade nur so weit, dass ihre Nase das Sonnenlicht berührte. Sie schloss die Augen und seufzte: „Ich wünschte, ich wäre mutig wie ein Löwe. Dann könnte ich gehen wohin ich wollte“.

Als sie die Augen wieder öffnete, stürzte ein riesiger Schatten direkt auf sie herab. Leonie blickte in den Himmel und sah, wie ein mächtiger Falke direkt auf sie zuflog. Sie wollte fliehen, aber sie konnte sich vor Schreck nicht mehr bewegen und versteckte ihr Gesicht hinter ihren zu groß geratenen Pfoten. Der Falke kam näher und näher.

Doch etwas seltsames geschah. Denn je näher er kam, desto kleiner wurde er. Er wurde immer kleiner und kleiner. Er war direkt winzig, viel kleiner als Leonie. Er bremste schließlich ab, ließ sich neben Leonie nieder und blickte zu ihr empor. „Ist alles OK?“ fragte er. „Hast du Angst?“. Erstaunt stellte Leonie fest, dass der Falke gar nicht so groß war und antwortet: „Eigentlich hatte ich Angst vor dir, weil du sooooo riesig ausgesehen hast. Aber du bist ja ganz klein!“ Der Falke plusterte sich etwas auf und streckte seine Brust heraus, um etwas größer zu wirken und sprach: „Ich bin noch ein junger Falke und werde noch viel größer und stärker werden!“ Leonie lächelte etwas verlegen. Der Falke grinste verschmitzt zurück und fragte: „Wollen wir Freunde sein?“. Leonie war noch etwas verwirrt und konnte nicht gleich antworten. Ihr Blick fiel auf seine messerscharfen Krallen. Die Krallen waren sehr klein. Einer dicken Maus wie ihr konnten diese winzigen Krallen nichts anhaben. Sie begann nun ihre eigenen klumpigen Füße genauer zu betrachten. Ihr fiel auf, dass es zwar sehr breite Pfoten waren, aber irgendwie fand sie nun gefallen an ihren flauschigen Tatzen. Da rief der Falke: „Ich kann dir auch helfen! Von oben habe ich eine perfekte Aussicht und kann für uns gutes Futter finden. Ich kenne sogar eine Stelle, wo du leckeren, süßen Honig findest! Komm ich zeige sie dir!“ Ohne eine Antwort abzuwarten hob sich der kleine Falke in die Lüfte und rief: „Komm, folge mir! Einfach mir nach“. Leonie zögerte. Sie wollte erst wieder zurück in ihre sichere Höhle, aber dann dachte sie wieder daran, dass sie so mutig sein wollte wie ein Löwe. Sie schloss die Augen, atmete tief ein, zählte leise bis 3 und machte zitternd den ersten Schritt, dann einen zweiten und dritten, um dem Falken zu folgen.

Im Wald roch es wundervoll nach wilden Rosen, Beeren, frischem Gras und Kräutern. Der Himmel war blau und die Sonne strahlte so schön wie nie zuvor. Leonie kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie wollte mehr von der Sonne spüren, den Duft der Blätter in sich hinein saugen und die kleinen Tannennadeln und Äste unter ihren Tatzen spüren. Als ihre Gedanken wieder etwas klarer wurden, schaute sie sich um und erschrak. Sie stand mitten im Wald und ihr Zuhause war nicht mehr zu sehen. Sie blickte empor zu ihrem neuen Freund, dem Falken, nahm ihren ganzen Mut zusammen und folgte ihm weiter. Immer tiefer in den Wald hinein.

Schließlich erreichten sie einen hohen Baum. An einem Ast hing eine prall gefüllte Honigwabe. Leonie hätte niemals die Wabe erreichen können und auch der Falke wäre nicht an den Honig herangekommen, da ihn sonst die Bienen gestochen hätten. Zusammen war es ihnen aber möglich. Der Falke flog blitzschnell an die Honigwabe heran und verpasste ihr mit seinen scharfen Krallen ein paar gekonnte Hiebe, bis sie herabfiel. Leonie verscheuchte die Bienen mit ihren dicken Tatzen und als die Bienen verschwunden waren, konnten die beiden neuen Freunde den Honig genüsslich miteinander teilen.